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Das Bodhisattva-Ideal

 

Oft geht es Menschen, die beginnen, Zazen zu praktizieren, darum, eine Meditationstechnik auszuprobieren, um eine Praxis zu finden, die das eigene Wohlbefinden steigert. Wenn man jedoch die Bedeutung der Praxis im Dojo tief versteht, begegnet man der wirklichen spirituellen Dimension dieser Praxis. Ich bin überzeugt, dass es sich hierbei um die Dimension des Bodhisattva handelt. Diese ist sehr weit und aus meiner Sicht allumfassend.

Zunächst scheint es mir wichtig, dieses Bodhisattva-Ideal in Bezug zur Lehre Buddhas zu setzen. Oft wird gesagt, dass das Bodhisattva-Ideal im ersten vorchristlichen Jahrhundert zusammen mit dem Mahayana-Buddhismus erschienen ist, und es wird dem Ideal der ersten Schüler Buddhas gegenübergestellt, dem Arhat-Ideal. Ein Arhat ist ein Heiliger, der sich von allen Anhaftungen befreit hat, die ihn im Zyklus der Wiedergeburten hielten. Er hat in diesem Leben das Nirvana, die Auslöschung allen Leids erreicht, und die Gewissheit, nach seinem Tod nicht mehr in dieser Welt wiedergeboren zu werden, in dieser Welt, die von Geburt und Tod bedingt und damit mit Unzufriedenheit, Leid, Trauer verbunden ist.

Ungefähr vier Jahrhunderte nach dem Tod Buddhas manifestierte sich eine neue Strömung im Buddhismus, die dieses Arhat-Ideal als sehr begrenzt empfand, da es die Unterweisung Buddhas zu einem Mittel reduzierte, dem Zyklus der Wiedergeburten zu entkommen, und auf eine Vernichtung des Ich in einem Nirvana abzielte, das sich rein negativ aus der Abwesenheit der bedingten Existenz in dieser Welt definierte. Das Arhat-Ideal scheint zu dieser Zeit das Herz und den Geist einiger Schüler Buddhas nicht so befriedigt zu haben, dass sie ihm als spirituelle Praxis ein ganzes Leben ­ und sogar mehrere Leben ­ widmen wollten. Daher legten sie den Akzent auf einen anderen Aspekt der Unterweisung Buddhas, das Bodhisattva-Ideal. Dabei handelt es sich unbestreitbar um eine historische Evolution.

Das Bodhisattva-Ideal existierte jedoch bereits in der Lehre Buddhas und sogar vor ihr, war Buddha Shakyamuni doch während vieler Existenzen ein Bodhisattva, bevor er 500 v.Chr. als voll verwirklichter Buddha zu einer sogenannten letzten Existenz auf die Erde kam. Buddha selbst hat von seinen Existenzen als Bodhisattva in den Jataka gesprochen, in denen er die Geschichte seiner früheren Leben erzählt. Der Sinn der Praxis des späteren Buddha war es in diesen Leben als Bodhisattva gewesen, nicht nur sein persönliches Heil zu suchen, sondern den anderen Wesen Hilfe zu bringen, um ihnen die Befreiung aus ihren Leiden zu ermöglichen. Das Bodhisattva-Ideal ist also nicht einfach vier Jahrhunderte nach dem Tod Shakyamunis durch eine Art Evolution entstanden, sondern er selbst hat dieses Ideal gelebt, hat es gezeigt, hat es während tausender früherer Leben verkörpert.

Die Gelübde der Bodhisattvas

Das Bodhisattva-Ideal kommt in den vier Gelübden zum Ausdruck, die der Bodhisattva ablegt:

1. Zahlreich sind die lebenden Wesen. Ich gelobe, sie alle zu retten (oder: ihnen allen zu helfen).

2. Zahlreich sind die Leidenschaften (und damit die Ursachen des Leidens). Ich gelobe, sie zu lösen.

3. Zahlreich sind die Lehren (oder Dharma-Pforten). Ich gelobe, sie alle zu studieren und zu praktizieren.

4. Vollkommen ist der Weg Buddhas. Ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

Zahlreich sind die lebenden Wesen. Ich gelobe, sie alle zu retten.

Es geht nicht nur darum, die menschlichen Wesen zu retten, sondern alle Wesen, die sich im Samsara, in den sechs Welten der Transmigration, befinden:

- die Wesen, die sich in der Hölle befinden, in ständigem Leiden,

- die Gaki, Wesen, die unter einer unstillbaren Gier leiden und ein bisschen wie Geister sind, die in unserer Welt herumirren, aber auch etwas außerhalb dieser Welt sind,

- die Tiere. Tiere sind fühlende Wesen, die sich im Zyklus der Wiedergeburten befinden. Man muss sie respektieren und ihr Leiden, soweit wie möglich, erleichtern. Die Wiedergeburt als Tier ist keine Wiedergeburt, in der man die Möglichkeit hat, den Weg zu praktizieren und zu erwachen, und wird daher als etwas eher Unglückliches angesehen. Dennoch gibt es bestimmte entwickelte Tiere, z.B. bestimmte Hunde oder Großaffen, die Mitgefühl und Wohlwollen zeigen. Viele Tiere entwickeln positive Gefühle und die Fähigkeit zu helfen. Aber sie können sich nicht auf eine spirituelle, religiöse Praxis, auf die Praxis des Weges konzentrieren.

- die Menschen. Auf den menschlichen Zustand richten sich unsere Bemühungen, einem jeden zu helfen.

- die Asura. Manchmal übersetzt man das mit Titanen, die kriegerischen Geister, die kriegerischen Götter.

- die Devas, auch sie sind Götter. Buddha Shakyamuni unterrichtete den Weg auch in der Welt der Götter. ­ Aber ich glaube das betrifft uns nicht so sehr, wir haben genug in unserer eigenen Welt zu tun.

Das Handlungsfeld des Bodhisattva sind also alle fühlenden Wesen. Das ist deswegen von Interesse, weil man im Buddhismus im Gegensatz zu anderen religiösen Weltsichten einen Kreislauf und eine Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen von Lebewesen sieht. Im Buddhismus wird angenommen, dass wir selbst in verschiedenen Wiedergeburten diese sechs Welten schon erlebt haben und daher eine gewisse Nähe zu den Wesen in diesen Welten haben und die Fähigkeit zur Sympathie für sie, in welchem Zustand sie sich auch immer befinden mögen, was auch immer ihr Karma sei.

Mitfühlen, eine der Grundlagen des ersten Gelübdes des Bodhisattva, allen Wesen zur Hilfe zu kommen, beginnt, wenn man sich bewusst wird, dass kein menschliches Leid, kein menschliches Schicksal, kein Schicksal der fühlenden Wesen einem selbst völlig fremd ist, wenn man sich bewusst wird, dass man selbst ­ und sei es auch nur potentiell oder als Samen­ all diese Leidensursachen in sich hat, die manche in die Hölle bringen, andere in Welten der Begierde, Welten sehr großen Leids, andere in Welten der Agressivität, wieder andere vielleicht in Welten der Extase. Wenn wir unseren Geist während der Meditation betrachten, erkennen wir alle diese Welten, in denen die fühlende Wesen ihre Existenz zubringen, und wir erkennen, dass uns nicht nur nichts von dem fremd ist, was menschlich ist, sondern auch nichts von dem, was lebt.

Die Praxis der Meditation entwickelt also die Empathie, den Sinn für der Kommunion und Solidarität mit allen fühlenden Wesen, indem man sich bewusst wird, dass es nicht fühlende Wesen auf der einen Seite und einen selbst auf der anderen Seite gibt, sondern dass in einem selbst alle Zustaände der fühlenden Wesen existieren.

In der Zazen-Praxis sitzt man mit nach innen gerichtetem Blick vor der Wand und studiert, wie man sagt, sich selbst. Man könnte glauben, dass das zu Nabelschau und Egoismus führt. Aber wenn man richtig praktiziert, erlaubt es uns diese Praxis, zumindest zeitweise, unsere Identifiaktion mit unserem kleinen Ego fallenzulassen, die uns in uns selbst einschließt, die uns daran hindert, uns zu öffnen und die Welt in ihrem wirklichen Zustand zu sehen.

Oft kommen Menschen zu mir und fragen mich: „Was soll ich mit meinem Leben anfangen?" Fast nie fragt mich jemand: „Wie kann mein Leben anderen nützen?" ­ Ich glaube, dass die Frage, was man aus seinem eigenen Leben machen soll, ein Hindernis für das Mitgefühl ist. Der Bodhisattva stellt sich diese Frage nicht mehr, denn für ihn besteht der Sinn seines Lebens wirklich darin, seine Gelübde zu erfüllen und sein Leben der Hilfe für alle Lebewesen zu widmen.

Meister Deshimaru hat uns immer wieder gesagt: „Praktiziert Zazen so, als würdet ihr in euren Sarg steigen." Er meinte damit, dass man so praktizieren sollte, als würde man dem Tod gegenüberstehen. In dem Augenblick taucht die Frage auf: „Was ist wirklich wichtig im Leben?" ­ Ich glaube, dass es mir im Angesicht des Todes, wichtig wäre, mir sagen zu können, dass ich während meines Lebens einigen Menschen geholfen habe.

Das Bodhisattva-Ideal des Mitgefühls ist kein Gebot, wie wir es aus dem Katechismus kennen ­ „Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst" -, sondern es kommt aus dem Erwachen durch Zazen heraus, daraus, dass wir verstehen, dass wir und die anderen nicht getrennt sind. Das heißt nicht, dasss es keine Unterschiede gibt, dass es keine unterschiedlichen Persönlichkeiten gibt, sondern dass wir uns nicht grundlegend unterscheiden und in der Tiefe nicht getrennt sind. Das Gelübde des Mitgefühls ist Ausdruck der Tatsache, dass wir die Dimension unserer Existenz berührt haben, die man Buddha-Natur nennen kann, unsere Existenz in Wechselbeziehung mit allen Wesen. Die Buddha-Natur ist nichts, was man erzeugt, nicht das Ergebnis intensiver religiöser Praxis. Man hat sie schon immer, sie ist unvermeidbar: Die Totalität unserer Existenz ist nichts anderes als dies, nichts anderes als wechselseitige Anhängigkeit. Aber normalerweise sehen wir uns als etwas an, was wir nicht sind, glauben, dass wir dieser Körper sind, identifizieren uns mit diesem Körper, seinen Empfindungen, seinen Gedanken, seinen Wünschen. Weil all das Bewusstsein hat und nicht sehr beständig erscheint, fügt man dem eine geistige Konstruktion hinzu, die man „Ich", Persönlichkeit, nennt. Anschließend setzt man sich das Ziel der Selbstverwirklichung, der Persönlichkeitsentwicklung, bei der es um nichts anderes geht als darum, eine aufgesetzte mentale Konstruktion zu stärken. Dabei übersieht man, dass Körper, Empfindungen, Gedanken, Wünsche und Bewusstsein nur energetischer Ausdruck der Wechselbeziehung mit dem ganzen Universum sind, Ausdruck der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen der eigenen Existenz und dem ganzen Universum.

Aus der Sicht der Lehre Buddhas sind wir in Wirklichkeit bereits alle in dem Sinne erwacht, dass wir alle bereits an dieser Buddha-Natur teilhaben. Die Praxis der Meditation ist dazu da, um uns wieder mit der Buddha-Natur in Berührung zu bringen, und uns zu ermöglichen, die Schranken in unseren Denkweisen fallenzulassen, die uns daran hindern, die Einheit, den Nicht-Unterschied, die Nicht-Getrenntheit zu sehen. Das Bodhisattva-Ideal stellt also keine Bemühung dar, besser oder mehr zu sein als wir sind, sondern ist eher der Ausdruck dessen, dass wir uns dem annähern, was wir in der Tiefe schon immer sind.

Das erste Gelübde formuliert „um allen Wesen zu helfen". Aber in Wirklichkeit geht es um das Heil der anderen Wesen. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, denn oft beginnt man ausgehend von der Zazen-Praxis, sich um andere zu kümmern. Glücklicherweise sind es nicht nur Menschen, die Zazen praktizieren, die sich um andere sorgen, aber man sieht z.B. bei Zen-Praktizierenden, dass sie, wenn sie sich beruflich verändert, eher in helfende Berufe gehen als in Business-Berufe. Aber manchmal wird übersehen, dass es bei dem ersten Gelübde des Bodhisattva nicht um gewöhnliche Hilfe geht. Natürlich heißt es, dass ein Bodhisattva alle möglichen geeigneten Mittel, alle upayas, benutzt, um allen Wesen zu helfen und ihre unterschiedlichen Leiden zu verringern. Daraus folgt selbstverständlich, dass ein Bodhisattva Arzt oder Therapeutin werden kann und allen helfen kann, die ihn zufällig kennenlernen. Aber das ist nicht die wirkliche Dimension des Mitgefühls des Bodhisattva. Denn wirkliches Mitgefühl besteht nicht einfach darin, die Leiden mindern, indem man den Armen Geld, den Hungrigen Nahrung und den Kranken Medizin gibt, so wichtig und richtig dies auch ist. Diese caritative Dimension ist nicht die des Bodhisattva. Ihm geht es darum, allen Wesen zu helfen, das höchste Erwachen zu erlangen, die wirkliche Dimension ihrer Existenz. Man könnte sich damit zufrieden geben, caritative Werke zu tun, und glauben, so seine Berufung als Bodhisattva zu erfüllen. Aber wenn man als Therapeutin z.B. Neurosen heilt, hat man zwar Leiden gemindert, die Wurzel des Leids jedoch nicht berührt. Das Ideal des Bodhisattva ist es, sowohl bei sich selbst als auch bei anderen die Wurzel des Leids zu lösen, indem er es jedem ermöglicht, durch die Praxis der Meditation mit dem Weg, dem Dharma Buddhas in Kontakt zu kommen und dadurch jedem zu ermöglichen, seinerseits ein Bodhisattva zu werden.

Zahlreich sind die Leidenschaften. Ich gelobe, sie zu lösen.

Das zweite Gelübde ist das konkrete Gelübde, alle Wurzeln des Leids, alle Bonno, zu beseitigen, nicht nur die Wurzeln eigenen Leids, sondern alle. Es handelt sich somit um ein sehr großes Aufgabenfeld. Insgesamt gibt es 108 Bonno. Es sind dies die Leidenschaften, die unser Leiden verursachen. Nicht zu den Bonno zählen unabwendbare existentielle Gegebenheiten wie Geburt, Krankheit, Alter und Tod. Als Bonno bezeichnet man die Anhaftungen, die wir aufgrund unserer Unwissenheit und Verblendung selbst schaffen.

Das erste grundlegende Bonno ist also unsere Unwissenheit, das Nicht-Erkennen unserer wirklichen Natur, das Nicht-Erkennen der Lehren des Dharma, das dazu führt, dass wir die Dinge in einer täuschenden Weise wahrnehmen, die ihrerseits einen Handlungsprozess, ein Karma auslöst, welches wiederum das Leiden hervorruft.

Wenn der Bodhisattva gelobt, den Bonno ein Ende zu bereiten, gelobt er zunächst einmal, seine eigene Unwissenheit zu aufzuklären. Es ist ein wichtiger Aspekt unserer Zazen-Praxis, das Licht des Bewusstseins von Zazen auf unsere Unwissenheit, auf unsere Verblendung scheinen zu lassen, auf das, was bewirkt, dass wir weder uns selbst verstehen, noch unsere Existenzweise, noch unsere Anhaftungen, noch wie wir uns von ihnen befreien können. Für einen Buddhisten bedeutet Unwissenheit, die Vier Edlen Wahrheiten und die Lehre Buddhas zu ignorieren, sie nicht selbst tief erfahren, gelebt und erhellt zu haben.

Das zweite grundlegende Bonno ist die Gier, all das, was mit dem Wunsch, etwas zu besitzen zu tun hat, dem persönlich Vergnügen. Es umfasst nicht den altruistischen Wunsch des Bodhisattva, allen Wesen zu helfen. Buddha, der Bodhisattva, der Zen-Mönch, die Zen-Nonne haben einen sehr großen Wunsch, den Wunsch des Heils. Man nennt dies den Geist des Erwachens, auf Sanskrit bodhichitta, auf Japanisch Bodaishin. Bei dem, was Buddha als Gier beschreibt, handelt es sich um die Gier der Sinne, die Gier nach Existenz und den Wunsch nach Nicht-Existenz. Das erste ist am offensichtlichsten: genießen und besitzen. Der Wunsch nach Existenz bedeutet in einer ganz bestimmten Situation leben zu wollen, wo doch alles unbeständig ist. Bei dem Wunsch nach Nicht-Existenz handelt es sich nicht einfach um den depressiven Geist, der seinen Tagen ein Ende setzen möchte, der Selbstmord begehen möchte. es geht um den Wunsch, nicht in den gegebenen Umständen leben zu wollen. Z.B. liegt jemand krank zu Bett und möchte nicht mit dieser Krankheit leben. Es handelt sich um all das, was uns veranlasst etwas zurückzuweisen. Meister Sosan hat das in der ersten Strophe des Shin Jin Mei, des ersten großen Zen-Gedichts, sehr gut ausgedrückt: „Den Weg zu verwirklichen ist nicht schwer, man muss nur frei sein von Vorlieben und Abneigungen, von Vorziehen und Ablehnen."

Das dritte Bonno ist der Hass, sowohl der Wunsch nach Nicht-Existenz als auch der Wunsch, dass alle Umstände, die uns stören, nicht existieren. Es geht also um den Wunsch, die anderen auszurotten oder zumindest uns ihnen gegenüber durchzusetzen, wenn sie uns stören. Dabei kann es sich z.B. um einen kleinen Konflikt zwischen Partnern handeln, um eine Auseinandersetzung zwischen sozialen Klassen oder um weltweite Konflikte. Diejenigen, die den Weg praktizieren geloben, diese drei Gifte auszurotten.

Aber es gibt noch viele weitere, z.B. den Zweifel. Nicht den Zweifel, der es erlaubt, die Wahrheit zu vertiefen, sondern den nagenden Zweifel, der daran hindert, Vertrauen in den Weg zu haben, auf dem man sich engagiert hat, und der schließlich dazu führt, dass man gelähmt auf der Stelle bleibt. Dieser Zweifel wurde in der Lehre Buddhas als großes Hindernis gesehen, weil man ständig seine Lehre und Praxis in Frage stellt: Eines Tages steht man auf und geht zum Zazen, am nächsten tag bleibt man im Bett und fragt sich, ob es die Mühe wert sei zu praktizieren. Das verhindert den Fortschritt. Selbst wenn man nicht völlig vertrauen kann oder kein völliges Vertrauen hat, kann man zumindest einen Vertrauensvorschuss einräumen und sich sagen: Ich werde ein Jahr oder zwei praktizieren, mir einen Zeitraum geben, in dem die Zweifel abfallen können.

Es gibt viele weiter Bonno, vor allem alle intellektuellen Anhaftungen. Diese werden im Buddhismus als sehr schädlich angesehen. Es handelt sich um falsche Vorstellungen, z.B. den Glauben an ein selbständig existierendes Ego, den Glauben an die Nicht-Existenz nach dem Tod oder ­ im Gegensatz dazu - den Glauben an eine ewige Existenz. Schließlich alle dogmatischen Vorstellungen, Vorstellungen, die nicht aus eigenem Erleben stammen, von deren Wahrheit man sich nicht selbst überzeugt hat.

Weitere Bonnos sind der Hochmut, der Geiz, die Wut, schließlich kommt man auf 108.

Wie die ersten Schüler des Buddha legt der Bodhisattva das Gelübde ab, seinen Bonno ein Ende zu setzen. Der Unterschied besteht zwischen dem Ideal des Bodhisattva und dem Ideal des Arhat. Dieser möchte seine Bonno so schnell wie möglich beenden, um den Zyklus der Wiedergeburten zu beenden. Der Erfolg besteht also darin, in diesem Leben ein Arhat zu werden. Arhat zu sein, heißt für das Nirvana bestimmt zu sein. Nirvana ist dabei kein Ort, sondern etwas Unbeschreibbares, das die völlige Auslöschung dessen ist, was unsere Wiedergeburten im Samsara bedingt, also im Kreislauf der sechs Welten, von denen ich eben gesprochen habe.

Da der Bodhisattva gelobt, so lange nicht in ein endgültiges Nirvana einzugehen, so lange es noch leidende Wesen gibt, ist klar, dass es für ihn nicht wünschenswert ist, hier und jetzt seinen Bonno eine Ende zu setzen, denn kein Bonno und keine Anhaftung mehr würde bedeuten, im Nirvana zu verschwinden und keinen Kontakt mit der Welt der Leiden mehr zu haben. Dies ist nicht das Ziel des Bodhisattva.

Der Bodhisattva entschärft seine Bonno, d.h. er lässt sich nicht von ihnen vorantreiben, bleibt jedoch in Kontakt mit ihnen und sei es nur darum, um diese menschliche Dimension beizubehalten, den Kontakt mit den Leidensursachen der anderen. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn man könnte den Gedanken falsch interpretieren. Menschen könnten sich sagen: „Ich werde all meine Leidenschaften beibehalten, meine Bonno, meine Anhaftungen, denn Bodhisattva sein, heißt, in die Bonno eintauchen." Aber es geht darum, nicht um jeden Preis die Bonno sofort und so schnell wie möglich abzuschneiden, um ­ mit egoistischem Geist ­ der Welt zu entkommen.

Auf einer tieferen Ebene kann man sagen, dass der Bodhisattva die Leerheit verwirklicht hat. Denn der Bodhisattva hat nicht nur das Ideal des Mitgefühls, sondern er ist auch jemand, der die Leerheit nicht nur seiner eigenen Persönlichkeit, seines eigenen Ego verstanden hat, sondern auch die aller Dinge, darunter auch die der Bonno. Unter dem Blickwinkel der Leerheit haben selbst die Bonno keine Substanz. Sie um jeden Preis auslöschen zu wollen, wäre wie gegen Windmühlenflügel zu kämpfen, gegen etwas, das keine substantielle Existenz hat. Sie um jeden Preis auslöschen zu wollen, bedeutet ihnen Konsistenz zu geben und sie damit fast sogar zu bestärken, ihnen eine Wirklichkeit zu geben, die sie nicht haben. Die Weisheit, aufgrund derer der Bodhisattva am besten geeignet ist, sich selbst und den anderen zu helfen, die Bonno zu lösen, besteht darin, diese Leerheit zu verstehen. Aufgrund dieser rechten Sicht der Leerheit, die die Grundlagen der Anhaftungen untergräbt, kann der Bodhisattva besser handeln als durch eine vom Willen gesteuerte Askese. Denn dafür zu sein, den Bonno zu folgen, oder gegen sie zu sein, hält uns auf jeden Fall in einem dualistischen Geisteszustand, wohingegen Leiden und Anhaftung nur überwunden werden kann, indem die Wurzel allen Leidens, aller Anhaftungen überwunden wird: der dualistische Geist.

Der Bodhisattva sieht also die Leerheit der Bonno und nimmt ihnen ihre Kraft. Das geschieht aber nicht auf magische und unmittelbare Weise, selbst wenn man von unmittelbarem Erwachen spricht. Es handelt sich um eine Sichtweise, zu der wir immer wieder zurückkehren und die wir immer mehr vertiefen müssen, so dass die Wirksamkeit der Anhaftungen abnimmt, die verursachen, dass wir leiden und Quelle von Leid anderer sind.

Zahlreich sind die Lehren. Ich gelobe, sie alle zu studieren und zu praktizieren.

Das dritte Gelübde ist das Gelübde, alle Lehren Buddhas, alle Dharma-Pforten zu studieren. Was sind die Homon, die Dharma-Pforten? Aus Sicht des Zen könnte man sagen, dass es nur eine Pforte gibt: Zazen. In gewissem Sinn trifft das zu, denn Zazen ist die große Dharma-Pforte, die Pforte, durch die Buddha selbst in das Erwachen eingetreten ist. Das, was er in den folgenden 45 Jahren gelehrt hat, war Ausdruck der Weisheit und des Mitgefühls, das mit dem Erwachen verbunden war, das er verwirklicht hat, als er unter dem Bodhibaum saß. Wir sprechen von Zazen, andere nennen es Samatta-Vipassana. Es handelt sich um unterschiedliche Worte, die die Praxis der Konzentration und Beobachtung bezeichnen, die die Grundlage aller Meditationsformen ist, die vom Erwachen Buddhas inspiriert wurden.

Ausgehend von dieser Unterweisung entstanden alle Lehren Buddhas. Man hat gesagt, dass die Schüler des sogenannten Kleinen Fahrzeugs, die sich von den Bodhisattvas unterscheiden, den Achtfachen Pfad praktizieren; ihnen geht es darum, die Vier Edlen Wahrheiten verwirklichen, also das Leiden und seine Ursachen zu verstehen und es durch die Praxis des Achtfachen Pfades zu überwinden. Hierbei handelt es sich um die acht rechten Wege, die man allgemein zusammenfasst als die Praxis der Ethik, der Konzentration und Meditation und schließlich der Weisheit.

Man sagt, dass der Weg des Bodhisattva sich von dem genannten Weg unterscheidet, denn die Dharma-Pforte des Bodhisattva ist nicht der Achtfache Pfad, sondern die Praxis der sechs Paramita. Für mich gibt es in der Tiefe nur ein einziges Fahrzeug. Es handelt sich um eine Frage des Geistes, aber die Praktiken gleichen sich grundlegend. Man findet den Achtfachen Pfad in den sechs Paramita wieder.

Das erste Paramita ist die Gabe, die Großzügigkeit. ­ Um den Bezug zum Achtfachen Pfad aufzuzeigen: Die Gabe ist Teil der rechten Handlung. - Es ist interessant, dass unter den Praktiken des Bodhisattva die Gabe den ersten Platz einnimmt. Dies zeigt, dass die Großzügigkeit der wichtigste Aspekt seiner Praxis ist, das, was ihn beseelt.

Großzügigkeit ist nicht einfach das Gegenteil von Geiz und es ist auch nicht alle Welt beschenken. Großzügigkeit besteht darin, sich selbst dem Weg hinzugeben für das Glück der anderen, um allen Wesen zu helfen, die Gabe all seiner Energie und seiner ganzen Existenz auf diesem Weg. Darauf aufbauend sind die verschiedensten Gaben möglich und vorstellbar: das Geben eines guten Wortes, das Geben einer Lehre, das Schenken eines Lächelns, eines Blicks, das Schenken von Aufmerksamkeit. Ein Tag besteht aus vielen Gelegenheiten zu geben ­ oder es zu vergessen.

Die Praxis Buddhas enthält immer zwei Aspekte, ob es sich nun um die Praxis des Kleinen Fahrzeugs, die Praxis des Achtfachen Pfades, oder die der sechs Paramita handelt. Zum einen die Dimension, in der das, was man praktiziert positive Folgen, Verdienste, nach sich zieht und somit gutes Karma, Glück und eine gute Wiedergeburt. Dies ist die niedrigste Dimension, sie wird von Buddha unterwiesen und ist nicht zu vernachlässigen. Die andere Dimension ist, dass jede Praxis in sich selbst unmittellbare Befreiung, Loslassen und Erwachen ist. Dies gilt auch für die Gabe: Man hat die Verdienste des Gebens sehr hervorgehoben. Einerseits ermöglicht sie es, unter guten Bedingungen, sogar in Buddha-Ländern wiedergeboren zu werden, seine spirituelle Entwicklung unter besseren Bedingungen vollenden zu können, anderseits aber ist das Geben sofortige Befreiung, da man eine Anhaftung aufgibt, seine Gier loslässt. Das hängt natürlich von dem Geist ab, in dem man gibt. ­ Im wirklichen Geben, dem Geben des Bodhisattvas, so wie es z.B. im Diamant-Sutra gelehrt wird, gibt es keinen Gebenden, keine Gabe und niemand, der eine Gabe empfängt. Dies ist das absolute Geben, in dem es keinerlei Anhaftung gibt, weder an einen Gebenden, noch an Verdienste, keine Erwartung, dass die Gabe anerkannt wird, keine Anhaftung an sich selbst, überhaupt keine Anhaftung. Es handelt sich hier um das Geben als vollkommene Praxis der Loslösung. So zu geben ist vollkommene Befreiung, vollkommenes Erwachen, vollkommenes Satori.

Das zweite Paramita sind die Gebote. Ich werde auf sie nicht detailliert eingehen, sie wären Gegenstand eines eigenen Vortrags. Die Gebote zu empfangen ist jedoch ein grundlegender Vorgang in der Bodhisattva-Ordination. Man gelobt, die Gebote zu schützen: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, keine schlechte Sexualität, sich nicht vergiften ­ keine Drogen, kein Alkoholmissbrauch -, sich nicht über andere erheben und auf sie herabschauen, nicht hochmütig sein, nicht kritisieren, weder geizig noch wütend sein, nicht die Drei Kostbarkeiten verleumden.

Diese zehn Gebote, die man im Achtfachen Pfad wiederfinden kann, werden nicht einfach geschützt, um schlechtes Karma zu vermeiden und gutes Karma hervorzurufen, sondern sind Aktualisierung der Buddha-Natur. Die Gebote haben keine geringe Bedeutung. Manchmal hört man, die Gebote, die Moral, die Ethik seien die Grundschule des Weges. Die größten Zen-Meister haben die Praxis der Gebote jedoch als Ausdruck des Erwachens angesehen, in dem Sinne, dass man, um tatsächlich die Vollkommenheit der Gebote zu verwirklichen, das Nicht-Anhaften an das Ego verwirklichen muss. Nur so ist es möglich, wirklich nicht zu töten, nicht zu stehlen, nicht zu lügen, usw.

Die nächsten beiden Paramita sind die Geduld und die Bemühung. Geduld ist für einen Bodhisattva erforderlich, denn sein Gelübde erstreckt sich nicht nur auf dieses Leben. Der Bodhisattva legt sein Gelübde bis an das Ende der Zeiten ab, auch wenn es nach Auffassung des Buddhismus kein Ende der Zeiten gibt. Die Gelübde beinhalten auch das Gelübde, sich während Tausend, Millionen, Milliarden Wiedergeburten auf sie zu konzentrieren, solange bis alle fühlenden Wesen das Erwachen verwirklicht haben. Man muss also die Geduld haben, über lange Zeit in dieser Welt wiedergeboren zu werden und muss diese Wiedergeburten akzeptieren, während der Arhat, der Schüler des Kleinen Fahrzeugs, eine Phobie davor hat, in dieser Welt wiedergeboren zu werden. Der Bodhisattva kommt voller Freude in sie zurück und taucht in sie ein, nicht weil er sich an die Existenz klammert, sondern weil er von einem Gelübde beseelt ist, das dieser Existenz einen Sinn gibt, das bewirkt, dass das Dasein in einer Welt des Leidens Sinn macht, Freude weckt und Energie gibt, da man sich in einer Richtung bewegt, die völlig mit unserer tiefen Natur übereinstimmt. Das Gelübde ist ihr Ausdruck.

Die Bemühung gehört in den gleichen Bereich, nur dass das, was wir als Paramita der Bemühung bezeichnen, in Wirklichkeit die Energie ist. Wir nutzen die Energie, die wir empfangen haben und die unsere Seinsbestandteile über einen gewissen Zeitraum zusammenhält, für den Weg, kanalisieren sie auf den Weg. Die Energie benutzen bedeutet nicht, wie das heute so oft üblich ist, sie zu verschwenden, sondern wirklich diesen Körper, diese Energie, diese zur Verfügung stehende Zeit für die Praxis zu verwenden und dazu, den anderen zu helfen.

Die beiden letzten Paramita sind die Meditation und die Weisheit.

In der Meditation, in Zazen, gibt man die gewöhnliche Funktionsweise des Geistes auf, des Geistes, der von dem Wunsch konditioniert ist, das zu erhalten, was er mag, und das zurückzuweisen, was er nicht mag. Selbst wenn diese Geisteshaltung für den Lebensunterhalt erforederlich ist, so werden wir jedoch viel leiden, wenn wir uns von diesem Geist leiten lassen, und unser Leben wird begrenzt. Zazen ermöglicht es, sich von dieser Geisteshaltung zu befreien und einen Geist zu verwirklichen, der über Zuneigung und Abneigung hinausgeht und alles umfasst. Wenn man den gewöhnlichen Geist, der haben oder zurückweisen möchte, aufgibt, empfindet man eine große Freude, das große Glück, einfach in Frieden zu sitzen, in Frieden mit den anderen und mit sich selbst.

Aber selbst in der größten Vertrautheit bleibt etwas Geheimnisvolles, nicht Greifbares: Selbst wann man meint, sich völlig zu kennen, völlig vertraut mit dem eigenen Geist zu sein, können letztlich unsere Augen sich selbst nicht sehen und unser eigener Geist bleibt für uns selbst unfassbar. Wenn wir dies nicht ablehnen, sondern als tiefste Wirklichkeit unserer Existenz akzeptieren, kann man völlig loslassen. Statt zu meinen, dass man weiß und versteht, bewahrt man sich die Fähigkeit, erstaunt zu sein.

Weisheit ist ein wesentlicher Punkt, wenn man vom Bodhisattva spricht. Oft sagt man, der Bodhisattva sei mushotoku, habe kein Ziel. In Wirklichkeit hat er jedoch ein nicht-egoistisches Ziel, ein großzügiges, altruistisches Ziel, das Ziel das Höchste Erwachen zu verwirklichen. Dies kann nur durch prajna hindurch geschehen, durch die Verwirklichung der Weisheit, die es uns ermöglicht, tief und vollständig zu erwachen, ausgehend von einem vertrauten und tiefen Verständnis der Leerheit. Diese Weisheit entwickelt sich zugleich durch die Praxis der Meditation, durch das Nachdenken über die Lehre Buddhas und durch die Fähigkeit, die Lehren des Lebens aufzunehmen zu. Es heißt z.B., dass Meister Eno, obwohl er Analphabet war, die Fähigkeit besaß, die Lehren der Natur, die Lehren aller Existenzen aufzunehmen. Schließlich findet sich das Dharma Buddhas nicht nur in Büchern, sondern auch in der Natur, im Herzen jedes Lebewesens. Indem man die Natur, das Leben, betrachtet, indem man das Leben versteht, kann man das Dharma Buddhas verstehen. Meditation ermöglicht es, die Augen für die Wirklichkeit des Lebens zu öffnen. Meister Deshimaru wurde gelegentlich gebeten, in einem Wort zu sagen, was Zazen sei. Manchmal war die Antwort „Zazen", manchmal „das Leben", selbstverständlich das erwachte Leben.

Das sind die homon, die Pforten, die Lehren Buddhas.

Eine dritte, ebenfalls wichtige Lehre bezieht sich auf das Verständnis des der zwölf wechselseitig abhängigen Ursachen, die bewirken, dass sich das Rad des Lebens dreht. Darauf einzugehen würde jedoch den Rahmen des Vortrags sprengen.

Vollkommen ist der Weg Buddhas. Ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

Auch beim vierten Gelübde des Bodhisattva gibt es einen Unterschied zwischen dem, was der Bodhisattva anstrebt, und dem, worauf der Arhat ausgerichtet ist. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass man das Ideal des Arhats im Vergleich zu dem des Bodhisattva als begrenzt angesehen hat, begrenzt weil egoistisch: Ich ­ und ich allein - will das Nirvana möglichst schnell erlangen, die anderen sind später dran, ich werde ihnen in diesem Leben helfen, aber es ist ihr Problem. Auch die Mönche des Kleinen Fahrzeugs haben Mitgefühl, Mitleid, lehren und helfen. Aber sie beschränken sich auf dieses Leben, denn nach der Definition dessen, was ein Arhat ist, ist dieses Leben sein letztes. Darum ruft er „Sieg!", darum wird er nicht mehr wiedergeboren. Seine Fähigkeit anderen zu helfen ist somit begrenzt, denn es gibt viele Zeiten, ein Leben ist kurz und die Zahl der Wesen ist so unendlich, dass ein einziges Leben nicht reicht. Die Begrenztheit des Erwachens des Arhat liegt darin, dass es nicht alle Wesen umfasst und auch nicht die Mittel, um allen Wesen zu helfen. Das Mittel, allen Wesen zu helfen, besteht darin, das Höchste Erwachen zu verwirklichen.

Warum hat der Bodhisattva das Ideal, das Höchste Erwachen zu verwirklichen? Was enthält das Höchste Erwachen, das das Erwachen des Arhats nicht enthält? Es ist die Kenntnis der upaya, die Kenntnis aller Mittel, um allen zu helfen. Manchmal sagt man, der Unterschied zwischen einem samyaku-sambodhi, d.h. einem Buddha, der das Höchste Erwachen verwircklicht hat, und einem Arhat liegt darin, dass ersterer über Allwissenheit verfügt. Allwissenheit beschränkt sich nicht auf völlige Hellsichtigkeit, auf das Verstehen aller Phänomene, sie zeigt sich darin, dass man über alle Mittel verfügt, allen Wesen zur Hilfe zu eilen. Deshalb möchte der Bodhisattva das Höchste Erwachen verwirklichen, deshalb gibt er sich nicht mit einem eingeschränkten Erwachen zufrieden.

 

Da es das Ziel meines Vortrages ist, alle den Bodhisattva betreffenden Aspekte anzusprechen, möchte ich noch auf einen weitern Punkt eingehen: Mit dem Ideal des Mahayana, des Großen Fahrzeugs, entwickelte sich die Vorstellung, dass Bodhisattvas nicht nur auf der Erde existieren, sondern auch in anderen Sphären.

Das mag wunderbar und magisch erscheinen. Der religiös wichtige Gesichtspunkt ist der, dass man zu diesen Bodhisattvas beten kann. Es ist bekannt, dass Menschen, die sich in Schwierigkeiten befinden, das Bedürfnis haben, sich im Gebet an ein höheres, mitfühlendes Wesen zu wenden, das zur Hilfe kommt. Oft haben mich Schülerinnen und Schüler gefragt, ob man im Buddhismus, im Zen auch beten kann. Da man nicht an Gott glaubt und somit niemanden hat, zu dem man beten kann, kann man zu den Bodhisattvas beten. In den Zen-Tempeln rezitiert man oft das Kannon Gyo, das Sutra von Kannon. Kannon ist Avalokiteshvara, der Bodhisattva des Großen Mitgefühls. Er lebt als Bodhisattva im Himmel und manifestiert sich auf der Erde in ganz verschiedenen Formen, als Mann, Frau, Kind, Mönch, Nonne, manchmal sogar als Tier.

Alle Wesen können also Bodhisattvas sein. Das können sie glauben oder auch nicht. Aber es ist interessant zu sehen, dass der Mahayana-Buddhismus diese weite Vision der Existenz entwickelt hat. Ich glaube, dass sie eine große Hilfe für die Menschen ist, die sich auf dem Weg der spirituellen Evolution befinden.

Fragen:

Der Bodhisattva muss alle lebenden Wesen ins Nirvana geleiten. Bedeutet das nicht, das Leben im Universum zu zerstören?

Aus der Sicht des Bodhisattva gibt es keine Dualität zwischen Nirvana und Samsara. Beide sind Leerheit. Wenn man das versteht, kann man im Samsara sein und es wie das Nirvana leben. Man sagt, dass der Bodhisattva dem Nirvana entsagt. In Wirklichkeit hat er aber das Nirvana bereits verwirklicht, aufgrund seiner Opferbereitschaft, seiner Großzügigkeit, seiner uneigennützigen Praxis, der völligen Aufgabe seines Egoismus´. Bei diesem Nirvana handelt es sich nicht um ein Nirvana der Vernichtung. Es wird einzig und allein die Anhaftung und die Leidensursache vernichtet, nicht jedoch die Existenz.

Der Bodhisattva hat keine Angst vor dem Kreislauf der Wiedergeburten, denn er hat keine Angst davor, zu sterben und wiedergeboren zu werden. Da er ohne egoistischen Anhaftungen ist, ist für ihn das Samsara bereits das Nirvana. Wenn er sagt, dass er alle lebenden Wesen bis zur Schwelle des Nirvana geleiten wird, so heißt das nicht, dass er sie bis zur Schwelle ihrer Auflösung im Nirvana begleiten würde, sondern bis zur Schwelle ihrer Befreiung, wo sie ihrerseits keinen Unterschied mehr machen zwischen Nirvana und Samsara.

Ist die Ursache der Existenz nur das Karma? Wenn es kein Karma mehr gibt, gibt es dann keine Existenz mehr?

Das ist eine subtile philosophische Frage. Man könnte sich sagen, dass der Bodhisattva seinem Karma kein Ende setzen dürfte, denn hätte er kein Karma mehr, würde er nicht mehr wiedergeboren und könnte nicht mehr helfen. Ich bin darauf eben schon eingegangen. Dem ist nicht so. Die Existenz wird nicht nur vom Karma, Gier oder Hass, verursacht, ihre Ursache kann auch im Mitgefühl, im Gelübde liegen. Man kann wiedergeboren werden, weil man von einem Wunsch beseelt ist, aber einem altruistischen Wunsch, dem, allen Wesen allen Wesen zur Hilfe zu kommen.

Das lebende Nirvana, das in dieser Welt vollendet wird, wäre eine Welt, in der jede und jeder das Gelübde, allen anderen zu helfen, ablegen würde. Um das am Beispiel eines Paares zu erläutern: Im idealen, vollkommenen Paar konzentriert sich jeder Partner voller Mitgefühl und Wohlwollen völlig darauf, das Leiden des anderen zu verringern und den anderen glücklich zu machen. In diesem Augenblick haben die beiden die Bedingungen für ein völlig befreites und glückliches Leben geschaffen und können unabhängig vom Rest der Welt leben. Wenn alle Welt mit den Gelübden des Bodhisattva leben würde, wären alle Leidensursachen beseitigt.

Welche Bedeutung hat die Bodhisattva-Ordination?

Die erste Ordination, die wir in unserer Tradition weitergeben, ist die des Bodhisattva. Es gibt die Tendenz, zwischen denen zu unterscheiden, die Bodhisattvas sind, und denen, die nicht ordiniert sind, und die Tendenz, Bodhisattvas den Mönchen und Nonnen gegenüberzustellen. Diese Unterscheidungen sind nicht richtig, denn ob man Bodhisattva ist, hängt nicht von einer Ordination ab, sondern von dem Geist, in dem man praktiziert. Man kann also durchaus die Ordination als Bodhisattva empfangen haben und nicht den Geist des Bodhisattva praktizieren. Als Mönch oder Nonne muss man sogar mehr Bodhisattva sein, als diejenigen, die nur als Bodhisattva ordiniert sind. Zutreffender ist es zu sagen, dass die Bodhisattva-Ordination die Ordination der Laien-Schüler ist, die das Gelübde ablegen, den Drei Kostbarkeiten zu folgen. Sie geloben, Buddha, und seiner Lehre zu folgen und treten der Gemeinschaft bei, um in ihr alle Aspekte der spirituellen Dimension zu leben. Man bittet also in dem Augenblick um die Bodhisattva-Ordination, in dem man spürt, dass die Zazen-Praxis keine Entspannungstechnik neben anderen ist, sondern die spirituelle Dimension berührt, die uns belebt und die der Weg wird, dem man folgen möchte. Man bittet um die Bodhisattva-Ordination, weil man in ihr die Gelübde des Bodhisattva ablegt. Wenn man dann Mönch oder Nonne wird, geht es darum, sich noch mehr und noch intensiver um die Erfüllung der Bodhisattva-Gelübde zu bemühen.

Sie haben gesagt, dass man, wenn man in sozialen Berufen arbeitet, man Leiden gemindert, die Wurzel des Leids jedoch nicht berührt. Könnten Sie dazu etwas mehr sagen?

Man muss selbstverständlich den Kranken helfen, also ist es gut, dass es Ärzte und Therapeuten gibt. Aber es kann nicht darum gehen, allen zu helfen, gesund zu sein und das Leben von Dummköpfen zu führen. Was nützt es, gesund zu sein, wenn man seine Zeit, seine Energie, das kostbare menschliche Leben, das man empfangen hat, nicht dazu nutzt, das zu verwirklichen, was seinen tiefen Sinn ausmacht?

Offensichtlich ist ist es besser, schön, reich und gesund zu sein, als hässlich, arm und krank. Buddha war diesem Offensichtlichen gegenüber etwas skeptisch. Wenn man schön, reich, gesund, mit einem guten genetischen Erbe wiedergeboren wird, handelt es sich um die Frucht eines guten Karmas der Vergangenheit. Das ist nicht nichts, aber nicht Sinn der Praxis Buddhas. Denn ein gutes vergangenes Karma ist ein gutes Karma, weil es uns ­ theoretisch, aber nicht zwingend ­ bessere Bedingungen gibt, um den Weg zu praktizieren. Oft ist das aber nicht wirklich der Fall, denn wenn man schön, reich und gesund ist, neigt man dazu, sich zu sagen, dass man alles hat, um sich des Lebens zu erfreuen. Man wird also möglichst viel Lebensfreude anstreben, und das wird das Ziel der Existenz. Wenn man hingegen hässlich, krank und arm ist, kann man sich entweder sagen, dass man sich dafür rächen muss ­ das kann jeden spirituellen Ansatz verhindern -, oder man wird sich bewusst, dass es Leiden gibt. Man wird sich des Ursprungs des Leidens bewusst. Dieser liegt nicht darin, dass Gesundheit, Geld oder Schönheit fehlen, sondern viel tiefer, in unserer Gier, in unserem Wunsch, ständig mehr zu haben, weil es uns nicht gelingt, in Einklang mit unserer wirklichen Natur zu sein, mit dem, was wir in der Tiefe sind, weil es uns nicht gelingt, unser spirituelles Erwachen zu verwirklichen. Deshalb verfällt man dem Gift der Gier, die nie zufrieden ist: wenn man reich ist, hat man nie genug, wenn man gesund ist, möchte man, dass man gesund bleibt bis man hundert Jahre alt ist.

Der Buddhismus verdammt das Vergnügen nicht, befürwortet nicht Kasteiung. Aber das Glück, das aus der Befriedigung unserer Wünsche entsteht, wird von Buddha und denjenigen, die seiner Lehre folgen, als etwas angesehn, was letztlich unbefriedigend bleibt, weil es unbeständig ist: Selbst wenn man hundert Jahre alt wird, muss man eines Tages diese Existenz verlassen. Selbst wenn unser einziges Ziel darin besteht, so lange wie möglich gesund zu bleiben, wird die gute Gesundheit ein Ende haben. Man wird also eines Tages deprimiert werden, weil man zu der Erkenntnis kommt, dass alle Anstrengungen letztlich ohne Erfolg blieben. Und vor allen Dingen, weil man etwas anderes übersehen hat. Dieses andere, diese andere Verwirklichung kann man meines Erachtens nicht vernachlässigen, ohne dass man seine spirituelle Gesundheit verliert, ohne in der Tiefe eine Enttäuschung zu spüren, die kein materieller Erfolg ausgleichen kann.

Dies sind meine Gedanken. Sie müssen damit nicht übereinstimmen. Aber ich lade Sie ein, darüber nachzudenken und sich zu fragen, ob es wahr ist oder nicht. Alle Lehren Buddhas sind keine Wahrheiten, die jemand aufgedrängt werden, sondern Überlegungen, die man in Frage stellen sollte. Was ich ihnen sage, sollten Sie im Licht der Lebenserfahrung überprüfen. Tag für Tag, immer tiefer. Ist es wahr? Wie bewahrheitet es sich? Was ist vielleicht unzutreffend? Wenn etwas nicht stimmt: Warum trifft es nicht zu? ­ Und miteinander darüber sprechen.

Gibt es ein Heilmittel gegen Hass?

Es gibt zwei: Ein relatives Heilmittel ist es, das Gegengift gegen Hass zu erzeugen, wohlwollende Gedanken den anderen gegenüber. Überlegen, was die Ursachen des Hasses sind, was Gegenstand des Hasses ist, den Vorgang des Hasses zu zerlegen und ihn dadurch zu reduzieren. Wenn man z.B. jemand jemand nicht leiden kann, weil er uns weh getan hat, kann man sich sagen, dass diese Person es aus Unwissenheit getan hat, nicht, dass sie es unabsichtlich getan hat, sondern aus spiritueller Unwissenheit, weil sie nicht entwickelt genug ist, begeht sie Handlungen, die Schaden anrichten. Das Gegenmittel gegen Hass ist also nicht nur Wohlwollen, sondern auch Verzeihen, so wie es Christus lehrte: Verzeiht ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. In dem Augenblick verwandelt sich der Hass in Klage, in Mitgefühl. Wenn man den Hass fallenlassen und in Mitgefühl umformen kann, fühlt man sich sofort innerlich viel besser, sogar denen gegenüber, die man für seine Feinde hält. Aber das bleibt relativ.

Das absolute Heilmittel gegn Hass - wie gegen alle derartigen gewaltsamen Emotionen ­ ist die Leerheit des Egos wahrzunehmen, des Egos sowohl desjenigen, der verletzt hat, wie auch desjenigen, der verletzt wurde: Es gibt weder jemand, der verletzt, noch jemand, der verletzt wird. Dies ist die Praxis der höchsten Loslösung. Es gibt keine Ursachen zu hassen, es gibt keinen Gegenstand des Hasses, der Hass löst sich auf. Aber hierbei handelt es sich um eine derart tiefe Dimension, dass ich vorschlage, sich zunöchst einmal auf die erste, relative Praxis zu konzentrieren, auf das Wohlwollen. Das ist bereits ein großer Weg.

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